Sonnenuntergang auf dem Silberberg: Gestaunt wird still
Ich staune still, denn ein grandioses Naturspektakel verschlägt mir die Sprache. Nebelschwaden wabern durchs bereits dunkle Zellertal, das eingerahmt ist von herbstlich-buntem Laubwald und dem Immergrün der Fichten und Tannen. Am Horizont verabschiedet sich ein goldgelb leuchtender Feuerball, rostrot glüht der Abendhimmel. Doch ich staune – so viel Ehrlichkeit muss hier sein – nicht nur deswegen still, weil sich um mich herum ein Panorama ausbreitet, das aussieht wie das Meisterstück eines bayerischen Landschaftsmalers. Sondern eben auch, weil Atemluft knapp und kostbar ist, wenn man gerade viel zu schnell einen steilen Hang hinaufgestiefelt ist, um ja nicht den Sonnenuntergang zu verpassen.
Glücksmoment am Gipfelkreuz: In der Natur ist das Einfache das Beste
Ausgepowert und verschwitzt lehne ich mich ans Gipfelkreuz des Silberbergs. Und bin doch überglücklich, diesen Glücksmoment mitten in der Natur zu erleben. Menschliche Gesellschaft habe ich keine: Alle anderen Besucher sind wohl schon auf dem Weg ins Restaurant, und die Einheimischen genießen ihr Feierabendbier vom lokalen Adam Bräu. Bei mir gibt’s zwar nur einen Schluck Quellwasser aus der Trinkflasche und ein paar Walnüsse. Doch das Abendessen kann warten: An einem besonderen Ort ist das Einfache oft auch das Beste.
Aufatmen und durchschnaufen: Was der Lunge hilft, tut meiner Seele gut
Typisch ungeduldiger Städter, könnten die Einheimischen denken: Erst vor ein paar Stunden bin ich angekommen, habe aber trotzdem sofort die Wanderstiefel geschnürt und bin einfach losgelaufen. Auf Berge steigen, um runterzukommen – bei mir funktioniert das fast immer. Ein paar Tage lang möchte ich mal wieder aufatmen und durchschnaufen. Das geht nirgendwo besser als in Bodenmais, dem einzigen heilklimatischen Kurort im Bayerischen Wald. Hier kann ich nämlich nicht nur wie andernorts unter freiem Himmel, sondern auch unter Tage im Heilstollen des alten Bergwerks die Wirkung von besonders reiner Luft erleben. Was bei einem mehrwöchigen Aufenthalt nachweisbar der Lunge hilft, wird bei einem Kurzbesuch sicher auch meiner Seele gut tun.
Hausmittel aus der Apotheke machen meine müden Beine munter
Der Silberberg ist nur 955 Meter hoch. Um die Ecke liegen der Kleine Arber und der Große Arber, mit 1456 Metern der „König des Bayerischen Waldes“ – da will ich auch noch hoch, um den Ausblick zu genießen und die Eiszeitseen zu sehen. Im Vergleich zu den Alpen ist das ein Klacks, aber für die Flachländerbeine eines Schreibtischtäters vielleicht doch eine Strapaze. Wie gut, dass ich mich in der Marien-Apotheke mit ein paar lokalen Bodenmaiser Hausmitteln eingedeckt habe. Super, um die Muskeln zu lockern, ist der Latschenkiefer-Franzbranntwein – gut in die Haut einmassiert, entspannt er und fördert die Durchblutung. Doch was tun, wenn nach einer langen Wanderung die Füße brennen? Apotheken-Chefin Michaela Herzinger hat auch hierfür etwas aus eigener Herstellung parat: Einen Balsam mit kühlendem Kampfer und schmerzlinderndem Nelkenöl.
Los geht’s! Karl May berichtet vom Schatz im Silbersee, doch seine Schilderungen sind pure Phantasie: Selbst bei einer Expedition in den Wilden Westen würde man kein einziges Geldstück finden. Über Bodenmais erhebt sich aber tatsächlich ein Silberberg, der seinen Namen verdient: 700 Jahre lang wurden hier Erze und Mineralien abgebaut. Inzwischen ist Schicht im Schacht, der Barbarastollen hat sich in ein beliebtes Besucherbergwerk verwandelt. Das erreicht man sogar per Lift. Doch nur wer wie ich zu Fuß den steilen Weg zum Gipfel nimmt, wird zum Entdecker: Der Silberberg ist noch immer eine Schatztruhe – eine der Natur.
Mein Erfolgsrezept zum Stressabbau: Achtsam mit allen Sinnen wandern
Achtsam sein, das geht auch beim Wandern. Bewusstes Atmen macht mir hier unter freiem Himmel mehr Spaß als in einem Seminarraum – die Luft schmeckt im Bayerischen Wald einfach besser und frischer! Sie wirkt auf mich kühler als in der Stadt – und als ich den dicken Stamm einer alten Tanne bewundere, habe ich das Gefühl, die ätherischen Öle der Nadelbäume herausschnuppern zu können. Bei der nächsten Verschnaufpause konzentriere ich mich darauf, die Geräusche wahrzunehmen, die mich umgeben: Wie der Wind mal flüstert und mal mächtig aufbraust, aus welcher Richtung wohl das Klopfen des Spechts kommt, und wo genau die Maus im Laub raschelt.
Dann schärfe ich die Augen und nehme mir die Zeit, genau hinzuschauen, was alles am Wegrand wächst: Arnika und Heidekraut, bunte Flechten und tiefgrünes Moos – und sogar ein paar verschrumpelte Heidelbeeren, die mir den Aufstieg versüßen. Sich auf die Natur zu fokussieren, hilft mir beim Abschalten und Entspannen. Die Arbeit, der Termindruck, das zu Hause oft ziemlich nervige Gedankenkarussell: All das ist in diesem Moment schon unendlich weit weg.
„Desisgoànedsoweidned!“ Der Waidler-Dialekt klingt fremd wie chinesisch
Mein erstes Etappenziel – in Bodenmais den Alltagsstress zu vergessen – habe ich also schon erreicht. Doch Moment mal: Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Oder habe ich mich jetzt verlaufen, als ich für einen Abstecher in eine der vielen Höhlen geklettert bin, die den Silberberg durchlöchern wie einen Schweizer Käse? Mein Glück: Im Herbst ist der Bayerische Wald oft einsam, aber trotzdem nie ganz menschenleer. Ein Trailrunner sprintet den Hang hinauf. „Wo geht’s zum Gipfel?“, rufe ich ihm zu. Der Mann antwortet in einer Fremdsprache, die mir nicht geläufig ist. Seine Antwort: „Desisgoànedsoweidned!“ Bevor er um die Ecke biegt, sagt er dann noch: „Nasigsdasschōlinks! Wōdesschuidlis!“
Alles verstanden? Na herzlichen Glückwunsch! Ich dagegen bin, obwohl mit vielen Nuancen des Bayerischen vertraut, erst mal perplex. Leider steckt in meinem Wanderrucksack auch kein Wörterbuch des Waidler-Dialekts. Als ich mich von der Überraschung erholt habe, ist mein einheimischer Pfadfinder schon wieder verschwunden. Doch ich muss ihm, als ich seinen Rat noch mal ausbuchstabiert und übersetzt habe, Recht geben. „Desisgoànedsoweidned“ – es ist wirklich gar nicht mehr so weit bis zum Gipfel. „Nasigsdasschōlinks! Wōdesschuidlis“: Der Weg geht links ab, und zwar genau dort, wo das Schild ist...
Sorry, liebe Menschen von der Bodenmaiser Tourist-Info! Ich war anscheinend in einer Träumerei versunken und blind für die eigentlich tadellose Ausschilderung – aber bei einer Auszeit vom Alltag ist das ja durchaus erlaubt. Zur Ehrenrettung: Wenn eine Landschaft so wie hier besonders wildschön ist, sieht man eben den Wald vor lauter Bäumen nicht. Außerdem ist die unerwartete Begegnung mit dem netten Ureinwohner des Bayerischen Walds die beste Vorbereitung für das, was mich am nächsten Morgen erwartet. Ich werde nämlich „Woid Woife“ treffen – „Woid“ steht hier für den Wald, und „Woife“ für Wolfgang.
Der Mann, der die Tiere versteht: Ich gehe mit „Woid Woife“ auf Tour
Filzhut, Rauschebart, kariertes Hemd, Wanderstock: Der Typ ist ein gestandenes Mannsbild wie aus dem Bilderbuch. In einem früheren Leben hat sich Wolfgang Schreil als Kraftsportler versucht und wurde Deutscher Meister im Steinheben. Dann arbeitete er als Totengräber. Wäre er nicht mit Sabine verheiratet, würde er wohl immer in seinem Bauwagen im Wald leben, um Tiere zu beobachten. Im Ort galt der Naturfreund lange als Spinner und dann auch als Störenfried, weil er den Bau einer Gondelbahn in einem artenreichen Bergwald verhinderte. Heute aber, nach drei erfolgreichen Büchern, Fernseh-Dokus und Serienauftritten, ist er der bekannteste Bürger von Bodenmais. Inzwischen hat ihm die Gemeinde sogar einen eigenen Naturentdeckerpfad gebaut. „Woid Woifes Welt“ kann man auf eigene Faust entdecken, spannender aber ist es zusammen mit dem Original. Einmal in der Woche macht er eine Führung – und die ist immer ausgebucht.
Ich lerne: Unser Wald ist so spannend wie der Busch in Afrika
„Ihr könnt gern nach Afrika fliegen, um die Big Five zu sehen. Aber nicht, weil ihr denkt, dass ihr zu Hause in unserem Wald schon alle Tiere kennt“, sagt Woife zur Begrüßung. Eine ganze Kinderschar hängt ihm an den Lippen: Alle kennen ihn aus der Serie „Anna und die wilden Tiere“. Doch auch wir Erwachsenen können von ihm viel lernen. Wie man Rehe und Hirsche unterscheidet. Dass es bei uns nur heimische Eichhörnchen gibt, auch wenn sie mal ein graues Fell haben. Warum der Specht nicht aus Spaß trommelt, und Vögel nur im Frühling singen.
Ich schnuppere an feuchtem Totholz, halte den Arm ins Wasser des eiskalten Kneippbeckens, und schlendere auf einem Bohlenweg über eine Feuchtwiese. Auch meine Kreativität wird gefordert: An einer Station soll man Fichtenzapfen, Äste, und was man sonst so findet, zu kleinen Kunstwerken arrangieren. Super – etwas mit den eigenen Händen zu machen, hat mir in letzter Zeit gefehlt. Im Gästemagazin lese ich später, dass man in Bodenmais auch einen Kurs im Holzschnitzen belegen kann. Doch dafür fehlt mir nun wirklich das Talent.
Wilde Natur vor der Haustür: Ich marschiere zu gischtenden Wasserfällen
Am nächsten Tag ergießt sich ein ergiebiger Landregen über dem Wald: Im Herbst muss man mit so was immer rechnen. Schlechtes Wetter gibt’s für mich eigentlich nicht, nur schlechte Kleidung. Und doch kostet es mich ein wenig Überwindung, wieder nach draußen zu gehen. Doch es ist die beste Entscheidung: Viereinhalb Stunden bin ich auf den zwölf Kilometern der „Wildes-Wasser-Tour“ unterwegs. Durch Schlamm stapfen muss ich nicht, der Weg ist gut befestigt. Der Natur bin ich trotzdem ganz nahe: Am Hochfall bringt ein Bach allerlei buntes Laub mit, das in einen Natur-Pool an der Wasseroberfläche tanzt. Noch dramatischer ist es in der Rißlochschlucht, wo entwurzelte Bäume wie Mikado-Stäbchen gestapelt sind und die gischtenden Wassermassen ohrenbetäubend brausen. Kein Wunder: Je mehr es regnet, desto imposanter sind auch die größten Wasserfälle im Bayerischen Wald...
Saubere Luft unten wie oben: Bodenmais hat ein besonderes Heilklima
Ein ganz anderes, aber ebenso eindrückliches Hörerlebnis habe ich am Abend: Eine Klangschalenmeditation im Heilstollen. Einer der Gänge des Silberbergs ist inzwischen ein Therapieraum für Asthmakranke, Long-Covid-Patienten und Menschen mit Atemwegsproblemen. Das alte Bergwerk so zu nutzen, war in den 80-er Jahren eine Idee von Manfred Schappler: Der Mediziner, inzwischen 74, praktiziert noch immer als Hausarzt in Bodenmais. „Wir haben hier ein tolles Mittelgebirgs-Waldklima, das allen gut tut, die draußen in der Natur unterwegs sind“, meint er. Die reine Luft ohne schädigende Umwelteinflüsse ist der Grund, dass sich Bodenmais als einzige Gemeinde Ostbayerns mit der Auszeichnung heilklimatischer Kurort schmücken darf. Dazu kommt nun die Untertage-Therapie im Heilstollen: In zahlreichen Studien konnte die positive, langanhaltende Wirkung der allergenfreien, angenehm feuchten Luft belegt werden. Damit die Behandlung nachhaltig wirkt, muss man aber Zeit mitbringen und mehrere Wochen lang Tag für Tag zum Durchatmen in den Stollen gehen.
Entspannung pur: Die Klangschalen-Meditation im Heilstollen
Was tun, wenn man wie ich nur mal für ein Stündchen schnuppern will? Es gibt Führungen durchs Bergwerk – die sind informativ, aber nicht entspannend. Doch einmal in der Woche schließt Martha Becker eine Geheimtür auf und bringt alle, die sich in der Tourist-Information angemeldet haben, in den Therapieraum. Ich habe mich warm angezogen, und das war eine gute Idee: Im Stollen hat es immer fünf Grad, im Sommer wie im Winter. Die Wände glänzen feucht, Wasser tropft von der Decke. Sonst ist nichts zu hören: Ich fühle mich sofort geborgen.
„Schlafen ist OK. Aber bitte nicht schnarchen – das stört die ganze Gruppe“, sagt Martha Becker mit erfrischender Direktheit. Knapp zehn Leute sind gekommen, wir machen es uns auf den Liegen bequem, schließen die Augen. Was Martha Becker in der nächsten Stunde erzählt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber daran, dass ich die Klangschalen nicht nur mit den Ohren höre, sondern das Gefühl habe, die Schwingungen mit dem ganzen Körper zu spüren. Ich versinke tiefer und tiefer in der Liege. Mein Atem wird langsamer, die Gedanken ordnen sich, ich entspanne immer mehr – und schaffe auch im Kopf endlich Ordnung. Anschließend fühle ich mich erst erfrischt wie nach einer kalten Dusche. Doch dann fordert der Körper eine Pause: Ich schlafe in dieser Nacht wie ein Stein.
Ich hoffe auf ein Wiedersehen im Winter: Bis boid in Bomoas!
Ein paar Tage in Bodenmais: Als Prophylaxe gegen den Winterblues kann ich das nur empfehlen. Die Luft scheint mir hier klarer, die Ruhe deutlicher, die Sonne gleißender und der Himmel viel, viel weiter zu sein als anderswo. Wobei: Nichts gegen den Winter, der ist im Bayerischen Wald ganz anders als in der Stadt. Ich hoffe also, dass ich schon in ein paar Monaten wieder hier sein werde, zum Langlaufen, Schlitten fahren, Schneeschuhwandern. Dann werde ich meine neuen Bekannten mit „Habedere!“ grüßen – die Kurzform von „Ich habe die Ehre, Dich zu sehen“ ist stilvoller als nur „Hallo!“. In diesem Sinn: „Bis boid in Bomoas!“
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