Angsthasen sind schlaue Tiere. Sie wissen nämlich, wann sie Reißaus nehmen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich bin in meinem Leben schon ein paar ziemlich wilde Flüsse gepaddelt, habe mit dem Kongo Afrikas „Herz der Finsternis“ durchquert, und war mit Walfängern in Indonesien unterwegs. Doch all das ist vermutlich Pipifax im Vergleich zu meinem ersten kalten Kneipp-Guss. Frauen sind da sicherlich viel tougher, Stichwort Männerschnupfen. Ich aber frage mich: Kann ich noch abhauen? Ganz still und heimlich wieder abreisen?
Mist, das geht nicht mehr, die Bademeisterin hat mich schon entdeckt. Hier stehe ich also und kann nicht anders, muss Bademantel und Badeschlappen ausziehen. Und das morgens um sieben Uhr, noch mit Schlaf in den Augen, und vor allem noch vor dem ersten Kaffee! (Kneipp schwörte zwar auf Malzkaffee, doch später gibt’s zum Frühstück glücklicherweise trotzdem das Original aus Bohnen.)
Ich Angsthase bin nun also das Versuchskaninchen der KurOase des Klosters von Bad Wörishofen. Genau dort, wo einst Kneipp höchstpersönlich den Nonnen seine Anwendungen verschrieben hat, bevor jung und alt, arm und reich zum „Wasserdoktor“ pilgerte, um sich heilen zu lassen. Gut 150 Jahre später bin ich nun an der Reihe. Die Dame lächelt freundlich, doch das ist wahrscheinlich nur Tarnung. Denn sie hat eine Waffe in der Hand – den Wasserschlauch.
Wie eine Taufe ist diese erste Begegnung, und nichts und niemand kann dich auf die Intensität des Kennenlernens vorbereiten, weder auf den ersten Schock noch das Glücksgefühl danach. Das Wasser auf dem Rücken fühlt sich an wie flüssiges Eis, scharf wie ein Messer aus Damaszenerstahl. Die Kälte ist eine Greifzange, hat den Körper sofort fest im Griff. „E-i-n-a-t-m-e-n, a-u-s-a-t-m-e-n“, sagt die Stimme hinter einem, damit man das nicht vergisst. Wie viele Minuten dauert ein Guss? Nur wenige Sekunden, denn Kneipp ging es, wie man später erfährt, um den Reiz.
Bevor einem wirklich kalt wird, ist also alles schon wieder vorbei. Doch das reicht, um seine Sinne neu zu entdecken, wenn man die zusammengepressten Augen öffnet und den Umhang aus Wasser abstreift (abtrocknen ist verpönt). „Jetzt eine halbe Stunde ruhen!“, lautet die Ansage. Unter der Bettdecke wird es so wohlig warm, dass ich gleich noch mal einschlummere. Ganz ehrlich: Nach dem ersten Schreck fühlt sich so ein Guss verdammt gut an. Ich will mehr!
Einfach aussuchen, was ich bekomme, darf ich aber nicht. Eine Kur ist schließlich kein Wünsch-Dir-Was-Wellness: Zu Beginn der Woche hat mich Kurarzt Heinz Leuchtgens gründlich untersucht und mir passende Anwendungen verschrieben. Nach zu vielen Stunden am Schreibtisch steht vor allem der Rücken im Fokus, mit Güssen, Wickeln und Massagen. Drei Anwendungen gibt es am Tag, zeitig in der Früh, am Morgen, und am Nachmittag. Eigentlich empfahl Pfarrer Kneipp eine Kurdauer von mehreren Wochen. Arzt Heinz Leuchtgens sieht das ähnlich: Nur so erziele man eine nachhaltige Wirkung, denn zum Heilen brauche es Zeit. Die ist bei mir leider immer knapp. Doch um einmal auszuprobieren, was das Kneippen mit einem macht, ist eine Schnupperwoche in Bad Wörishofen perfekt.
Es gibt schließlich etwa 120 Wasseranwendungen für so ziemlich jeden Teil des Körpers, weit mehr als das bekannte Wassertreten. Dazu noch kalte und warme Wickel. Die angenehmste Anwendung aber ist der Heusack: Da huscht morgens in aller Herrgottsfrühe jemand in mein Zimmer, schiebt mir eine warme Packung hinter den Rücken, ein eiskaltes Tuch aufs Herz, und wickelt mich dann ein wie eine Mumie. Könnte ich das zu Haus bitte auch bekommen, wenigstens ab und zu? Lange habe ich nicht mehr so tief und fest geschlafen.
Nun tobt in Bad Wörishofen auch sonst nicht der Bär. Die angeblich größte Stadt im Unterallgäu wirkt für mich eher wie ein Dorf, durch das morgens und abends auch noch die Traktoren rattern, und in dem man das Leben ruhig angeht. Da gibt es die Fußgängerzone mit vielen Einzelhändlern statt großer Ketten, einen weitläufigen Kurpark mit Heilpflanzen, dazu viel Natur in der Umgebung. Doch zwischen den Anwendungen bleibt mir gar nicht viel Zeit für längere Ausflüge.
Das Kloster wird zu einem Refugium mit besonderer Atmosphäre. Im schlichten Zimmer gibt’s keinen Fernseher, dafür schaue ich auf den Garten und kann dort unter den Apfelbäumen ein Buch lesen. Auch die „innere Ordnung“ zählt neben Wasser, Bewegung und Heilpflanzen zu den fünf Säulen der Kneipp-Medizin. Auf die Ernährung wird natürlich auch geachtet. Die Küche serviert aber nicht nur Rohkost und Salat, sondern auch Wildschweinragout und Schokoladen-Tiramisu. Sage noch einer, eine Kneippkur sei eine Tortur!
Inzwischen fühle ich mich aufgeräumter und entspannter, viel aktiver und lebendiger. Nur an der vielen frischen Luft allein wird das nicht liegen! Doch leider steht nach einer Woche wie geplant die Abreise an. Kneippen kann anscheinend süchtig machen: Ich habe Entzugserscheinungen und vermisse das Wechselbad der Gefühle. Mit einer (kurzen!) kalten Dusche kann ich zwar auch zu Hause in den Tag starten – der Erholungseffekt soll ja nicht gleich wieder verpuffen. Für alles andere rufe ich der Bademeisterin zu: Ich komme wieder!
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