Weniger wird mehr
Und schon sitze ich da und vertiefe mich in eine gelbe Löwenzahnblüte. Mit allen Sinnen soll ich sie erfassen und nicht mit der Erinnerung aus dem Bio-Unterricht abgleichen. Hingucken, hin-riechen, hin-schmecken, auch hin-tasten geht. Vielleicht klappt sogar das Hin-hören. Am besten erst einmal einen Sinn ausschalten, um dadurch den anderen mehr Platz einzuräumen. Also – Augen zu, riechen, tasten. Wie fühlen sich die Blütenblätter an, wie der Stängel? Meine Gedanken schweifen ab, das Fokussieren auf nur eine Sache fällt mir schwer. Doch das sei absolut okay, hatte Anne Hartmann, Theologin und Achtsamkeitstrainerin in Bad Brückenau, mich schon zu Beginn der „Achtsamkeitsstunde“ vorgewarnt: „In diesem Moment gibt es kein ‘ich muss‘, ‘ich soll‘, ‘ich will‘, sondern wir nehmen nur das auf, was da ist und selbst eine Unterbrechung wird zur Achtsamkeit. In diesem Moment hören wir auf uns und nehmen uns wahr.“ Schwierig! Zumindest für mich.
Die Blütenblätter sind samtig und viel zu zart für meine Hände. „Zur Maniküre müsste ich dingend“ – zack, schon schießt mir der nächste Gedanke, der hier nicht hingehört, durch den Kopf. „Ganz normal,“ beruhige ich mich selbst und fühle noch ein bisschen, er-rieche die Blüte dann auch noch einmal, schon folgt das Sehen. „Wann habe ich mich das letzte Mal so ganz auf eine Sache eingelassen?“ Damit meine ich nicht nur eine Blüte – man nimmt auch gerne eine Rosine zur Achtsamkeitserfahrung. WhatsApp lesen, Mails checken beim Essen, telefonieren und nebenbei die Blumen gießen, die Liste könnte man endlos fortsetzen. Wir können „Multitasking“, also tun wir es auch,“ erklärt Anne Hartmann unser tägliches „Alles- auf -einmal. Jetzt in diesem Moment geht es aber nur um eine Sache. Auf die sollen wir uns konzentrieren. Für die haben wir Zeit.
Zurück in den Moment
Genau wie früher beim Sandburgenbauen. Gerade Kinder sind die Achtsamkeit in Person. Einmal ins Spielen vertieft, lassen sie sich durch fast nichts mehr ablenken. Und genau dieses Fokussieren auf eine Sache – das will ich wieder lernen. Und nicht immer alles nur halb und nebenbei erledigen. Das erzeugt unnötigen Stress. Angst vor einem Burnout haben viele, nicht nur ich.
Also Pausen einlegen, sich der Blume widmen. Und versuchen, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher. Ganz ohne Zwang, ohne jegliche Dogmatik, versuchen sich auf das Einzelne einzulassen, auf den gelungenen Auflauf genauso wie auf die gelbe Blüte. Mir Zeit nehmen für nur eine einzige Sache, ist nicht so mein Ding, funktioniert hier aber immer besser und - es fühlt sich tatsächlich gut an. Das Hamsterrad macht Pause.
Sich selbst vergessen
Mindfullness – sich mit vollem Geist einlassen, sich rückbesinnen, sich eine Pause nehmen, um wieder aufzutanken. Nicht beurteilen, sondern einfach geschehen lassen. Das funktioniert tatsächlich. Die Blume ist plötzlich nicht mehr nur eine von vielen, die man gerade noch so aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Ihr Aufmerksamkeit zu schenken, das hilft. Vielleicht nicht gerade beim Autofahren, aber danach oder davor. Selbst wenn meine wachsam kontrollierende Fitness-Uhr mich wieder an all die fehlenden Schritte erinnert – sie weiß schließlich nichts von der Blume, die ich inzwischen selbst-vergessen in ihre Einzelteile zerlegt habe.
Raus aus der Selbstoptimierung hin zum Selbst-Verständnis und zwischendurch eine Pause für die kleine „Prise Achtsamkeit“ – Das funktioniert, tut gut und entschleunigt ungemein.
Für meinen nächsten Urlaub habe ich große, neue Pläne: Mal wirklich auf "Null schalten" . Bin gespannt, ob ich danach den Blinker ganz neu setze.
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