Schießen ist mir eher fremd, die Zeiten von Pfeil und Bogen sind schon lange vorbei und ein Gewehr hat zuletzt bei der Faschingsfeier im Kindergarten mein Outfit ergänzt - und das ist nun wirklich schon einige Jahrzehnte her. Und jetzt drückt mir Mathias Math also zum ersten Mal seit gefühlten Jahrhunderten ein Gewehr in die Hand. Schießen soll ich hier im neuen Nordic Zentrum von Obersdorf. Ich! Und nicht nur das - Langlaufen gehört auch zum Kurs. Schließlich habe ich einen Biathlon-Schnupperkurs gebucht. Quasi auf den Spuren von Denise Herrmann, der neuen Biathlon-Olympiasiegerin von Peking, wandeln. Ich bin gespannt.
Zarte Schneeflocken schweben sanft aus dicken Wolken in Richtung Schießstand und Loipe. „Winterlandschaft vom Feinsten“, denke ich, während mir die ersten Flocken die Sicht nehmen und mir schon mal die perfekte Entschuldigung liefern, wenn ich gleich danebenschieße.
Die kleinen Scheiben fest im Blick
Den sicheren Stand, die beste Position suche ich noch. Wie soll ich das Gewehr noch einmal halten und den Kopf wie drehen? Die Schulter leicht heben? Vielleicht sollte ich das nächste Mal besser zuhören, statt die Atmosphäre bis in die fröstelnden Zehenspitzen hinein aufzusaugen und mit einem Seitenblick all die Langläufer zu bewundern, die, die es wirklich können. Die Handschuhe stecken in der Jackentasche, die Finger sind klamm und nun auch noch das Gewehr positionieren. Gar nicht so leicht, zumal es einige Kilos wiegt. Fünf kleine schwarze, runde Schießscheiben warten geduldig auf ihren Einsatz. Sie werden sich nur bewegen, wenn ich sie auch treffe. Anvisieren, ein Auge schließen - ich sehe nichts - nur nicht wackeln, Zielfernrohr, Kimme und Korn - eine Linie und „Feuer“. Die anvisierte Scheibe hat noch Pause. Der Treffer ging daneben - Gott sei Dank schießen wir hier nicht mit scharfer Munition, sondern „nur“ mit einem Lasergewehr.
Schnelle lade ich nach, peile die gleiche Scheibe an und …knapp daneben. Euphorie macht sich breit, schließlich ist der Schuss schon mal in der richtigen Richtung gelandet. Beim dritten Versuch vergesse ich vor lauter Übereifer das Nachladen. Atmen, fokussieren und – getroffen. Ich könnte vor Freude durchs Stadion hüpfen. Stattdessen geht es auf die Ski -Biathlon besteht ja aus zwei Disziplinen – Langlauf plus Schießen. Also Handschuhe an, Stöcke schnappen und versuchen zu skaten. Quasi im Schlittschuhschritt laufe ich den winzigen Hügel hinauf. Meine Gedanken wandern allerdings immer wieder zurück zum Schießstand. Klar, dass dann passiert, was passieren muss. Welches Bein wann, wo und die Stöcke? Schon liege ich im Schnee. Erst hadere ich mit mir, doch den Umgang mit Zweifeln, das Selbstvertrauen, das Auf-sich-Schauen und Zutrauen, habe ich gestern bereits auf dem „Parcours der Sinne“ geübt.
Mit geschlossenen Augen zum Selbst-Vertrauen
Atmen habe ich dort gelernt. Hört sich ein bisschen strange an, tat aber gut. Tief, ruhig und - das hat mich allerdings ein bisschen Überwindung gekostet, - laut. Funktioniert aber. Und wie: Mit meinem „Urton“ atme ich viel länger aus als ohne, unglaublich. Das sollte jeder unbedingt einmal probieren, vor allem hier, da Oberstdorf als Heilklimatischen Kurort 2002 auch noch mit dem Prädikat „Premium Class“ ausgezeichnet wurde. Die Luft ist also besonders gut und darf dementsprechend lange in der Lunge bleiben. Das tut dem ganzen Körper gut, den Atemwegen sowieso und auch dem eigenen Ich, meinem Ich. Sich selbst spüren, darum geht es und auch ums Sich-selbst-vertrauen.
Kann ich das? Nach der nächsten Kurseinheit weiß ich, es geht. Ich muss es nur wagen. Persönlichkeitscoach Silvia Fink-Eisinger stapft durch den Schnee und erklärt die nächste Übung – es geht um Kommunikation, Selbstvertrauen, eine gesunde Portion Egoismus und die eigenen Bedürfnisse. Blind soll ich Hand in Hand mit einer weiteren Kursteilnehmerin einen dicken Baum umrunden. Was wohl die anderen Leute sagen? Doch der Gedanke verliert sich schon nach den ersten beiden Schritten. Es geht schließlich um den Baum und die Richtung. Wer führt, wer hört auf wen? Nicht das eigene Standing zählt, aber auch. Wer sich sicher fühlt, sollte es unbedingt sagen und dann ruhig die Führung übernehmen. Diese abzugeben, gehört ebenfalls zum Lernprozess. Das Miteinander zählt.
Flashback in die Kindheit
Und wann habe ich zum letzten Mal einen Schneemann gebaut? Ok, es wird eine Schneefrau, eine wunderschöne. Ich vergesse, wie schon beim Biathlon, beim Fokussieren auf die Zielscheibe, auf den Schuss, die Welt um mich herum. Kind sein, einfach machen, einfach Spaß haben, spielen, experimentieren, verwerfen. Dabei sei die Hingabe an das Hier und Jetzt ganz besonders wichtig, das innere Kind sollen wir dabei wecken, erklärt mir Silvia das Scheemannbauen für Erwachsene. Und es klappt. Die passenden „Ohrringe“ für die Schneefrau zu suchen, ist auf einmal viel wichtiger als alle Gedanken, als alle Pläne, als alles „Müssen“.
Ausprobieren, das Gleichgewicht finden, sich finden und das nicht nur in diesem Augenblick. Nachhaltiges Erleben - das „Sinnes Coaching“ gehört für Übernachtungsgäste in Oberstdorf zum kostenlosen Angebot. Und schon alleine durch meine Schneefrau werde ich mich ans Ausprobieren, ans „Wieder-dürfen“ noch lange erinnern. Es tut der Seele gut und gibt Kraft für den immer viel zu vollen Alltag.
Naturschauspiele sorgen für Gänsehaut
Genauso wie der Rundblick auf die 400 Gipfel vom knapp 2.230 Meter hohen Nebelhorn aus. Eigentlich müsste ich hier ganz besonders laut atmen bei diesem Ausblick - vielleicht später, wenn niemand schaut…
Oder die gefrorenen Wasserfälle, die armdicken Eiszapfen, die dichten Vorhänge aus Eis und all die verwunschenen Eisgebilde in der tiefsten Felsenschlucht Mitteleuropas. Hier in der Breitachklamm atme ich ganz automatisch noch tiefer ein. Eisiges Wasser tropft mir langsam in den Nacken. Fast schon wie eine kleine Kneippkur fühlt es sich an - Erfrischung pur, während das Wasser sich durch die Enge presst und an den Rändern zu Eis gefriert. Eine gewisse Vorfreude auf die Saunen im Hotel „Schüle’s Gesundheitsresort & Spa“ kann ich nicht leugnen. Sie werden später mein kleines „Kneippen“ abrunden. Ein paar Runden im Pool noch vor dem Abendessen werden dazu meine Muskeln wieder lockern.
Doch hier und jetzt zwischen den hohen steilen Felsen tut mir die Frische auf jeden Fall gut, vor allem auch als Vorbereitung für die Schießübungen. Denn Skaten und Stehenschießen reicht noch nicht aus, will man auf den Spuren der Olympioniken wandeln. Das Liegenschießen fehlt mir noch. Unwohl ist mir schon ein bisschen bei dem Gedanken - Im Liegen schießen, das bedeutet, ich muss mich hinlegen. Das macht mir jetzt nicht unbedingt was aus, aber wie ist das mit dem Aufstehen, das ja zwangsläufig irgendwann folgen muss. Beim Sturz vorhin war das ja auch nicht gerade die leichteste Übung. Aber ich will es probieren - wenn schon, denn schon. Der Ehrgeiz hat mich gepackt. Die Schneeflocken lassen sich leise auf dem Gewehrlauf nieder.
Und jetzt die Kür beim Liegendschießen
Das Gewehr ansetzen. Acht Kilo wiegt es immerhin, das geht in die Arme - das zusätzliche Training nehme ich gerne auch noch mit. Anschleichen wie in Kindertagen muss ich mich diesmal nicht. Meine Zielscheiben warten direkt voraus auf meinen ersten Treffer - klein, schwarz und rund. Laden, anvisieren, ausatmen, abdrücken - daneben. Noch einmal. Laden, anvisieren, ausatmen, abdrücken - und - getroffen. Jubeln kann ich noch nicht - ich liege schließlich. Mein erster Liegend-Treffer, da muss der nächste folgen. Daneben. Macht nichts, das habe ich ja von Silvia gelernt. Spaß haben ist wichtig, Kind sein, ausprobieren und nicht urteilen. Mir selbst soll ich vertrauen. Also weiter. Der nächste Schuss sitzt und noch einer. Am liebsten würde ich gar nicht mehr aufhören. Selbst das Danebenschießen macht mir nichts aus. Es ist einfach nur ein großer Spaß gepaart mit Fokussierung aufs Ziel und Konzentration auf die Atmung und den richtigen Moment. Dass ich auch irgendwann wieder aufstehen muss, mit den langen, dünnen Ski an den Füßen, was macht das schon.
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